Schuster: In deinem Buch sprichst du von der imperialen Lebensweise im Globalen Norden, also hier bei uns in Österreich, in Europa. Was müssen wir uns darunter vorstellen und warum ist diese so problematisch?
Behr: Der Lebensstil der meisten Menschen im Globalen Norden sowie der Mittelschichten in den Schwellenländern beruht auf der Verbrennung fossiler Energien sowie auf systematischen Menschenrechtsverletzungen und ist nicht verallgemeinerbar. Die imperiale Lebensweise produziert und festigt zudem die wachsende Ungleichheit innerhalb der Länder des Globalen Nordens. Fest steht, dass uns nicht mehr viel Zeit bleibt, um die irreversiblen Schäden einzudämmen, die der global entfesselte Kapitalismus verursacht. Die Klimakrise wirkt heute als Brandbeschleuniger für alle anderen Krisen – seien es soziale, ökonomische und ökologische Krisen oder kriegerische Auseinandersetzungen.
Fanizadeh: Um die imperialen Lebensweise zu überwinden braucht es Veränderung, gerade bei uns. Was bedeutet in diesem Kontext für dich sozial-ökologische Transformation? Was wären die wichtigsten Wendepunkte? Wo müssten wir ansetzen?

Ich argumentiere in meinem Buch, dass wir uns hierzulande dafür einsetzen müssen, dass bestimmte Wirtschaftszweige schrumpfen: Der motorisierte Individualverkehr, der Flugverkehr, die Kreuzschifffahrt, die Fleischproduktion, die Containerfracht und vieles mehr. Gleichzeitig geht es um eine Ausweitung der öffentlichen Infrastruktur. Ich verwende dafür den Begriff des Infrastruktursozialismus: öffentliche Verkehrsmittel, Gesundheitsversorgung, kostenlose Bildung und Kinderbetreuung, günstige Mieten sowie eine günstige, öffentliche Kantinenversorgung mit ökologischen Lebensmitteln. Ich bin der Überzeugung, dass wir einen anderen Begriff von Wohlstand und Freiheit entwickeln müssen, der nicht mehr bedeutet, jederzeit Flugreisen antreten zu können, auf der Autobahn nach Belieben zu rasen und jeden zweiten Tag Fleisch auf dem Teller zu haben. Die Überwindung der imperialen Lebensweise bedeutet nicht Verzicht, sondern einen Gewinn an Lebensqualität. Dazu gehört auch eine Reduzierung der Lohnarbeitszeit.
Fanizadeh: Du misst Lieferkettengesetzen eine große Bedeutung für die sozial-ökologische Transformation bei. Kurz: Was sind denn Lieferketten überhaupt und warum sollten sie gesetzlich geregelt werden?
Behr: Lieferketten bezeichnen Herstellung, Weiterverarbeitung und Transport von Gütern vom Produktionsort bis zum Verkauf. In der Lieferkettenforschung werden die sozialen, ökonomischen und ökologischen Zusammenhänge untersucht, die den Konsum einer Ware erst ermöglichen. Beinahe jede Tafel Schokolade wurde unter dem Einsatz von Kinderarbeit hergestellt, nahezu jedes Handy und jedes Auto enthält Rohstoffe, bei deren Abbau schwere Menschenrechtsverletzungen begangen worden sind. Gerbereien für die Textilindustrie in Indien verwandeln große Flüsse in stinkende Kloaken, in Lateinamerika und in Südostasien werden für die Palmölproduktion riesige Flächen Regenwald gerodet. Mein Argument im Buch ist, dass es nicht zu einer Individualisierung der Verantwortung kommen darf, nach dem Motto: Du kannst die Welt retten, indem du „richtig einkaufst“. Fairer und ökologischer Konsum kann zwar ein erster Politisierungsschritt sein, unsere Forderungen müssen allerdings in Gesetze und Normen eingeschrieben werden. Und dafür braucht es eine aktive Zivilgesellschaft, die umfassende und rechtlich bindende Lieferkettengesetze einfordert.
Schuster: Wo stehen wir heute mit der Einführung und Durchsetzung von Lieferkettengesetzen? Und eine weitere Frage, die mich beschäftigt: Wie könnte eine solidarische Arbeitsteilung zwischen unterschiedlichen Akteur*innen aussehen?

Behr: Die Idee eines Lieferkettengesetzes ist alt. Bereits in den 1970er-Jahren gab es bei den Vereinten Nationen eine Initiative von Ländern des Südens, transnationale Unternehmen an Verhaltensregeln zu binden. Doch die reichen Länder stellten sich quer und brachten die Initiative zu Fall. Nach vielen Jahren zähen Ringens verabschiedete der UN-Menschenrechtsrat, unter der Leitung des Sonderbeauftragten John Ruggie, 2011 die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Doch damit war das Ziel noch lange nicht erreicht, denn auch in dieser Vereinbarung fehlten Sanktionsmechanismen. Einzelne Länder wie Frankreich, die Niederlande oder Deutschland haben in den letzten Jahren eigene Lieferkettengesetze auf den Weg gebracht. Und auf der EU-Ebene wird darüber intensiv diskutiert.
In meinem Buch plädiere ich dafür, die Möglichkeiten einer solidarischen Arbeitsteilung auszuloten: radikale Basisbewegungen, Zivilgesellschaft und NGOs, Gewerkschaften, fortschrittliche religiöse Communities, Journalist*innen, Kulturschaffende, Studierende und kritische Wissenschaftler*innen an Universitäten sowie Aktive in progressiven Parteien können – bei aller Unterschiedlichkeit in der Wahl der Methoden und Ansätze – Synergien entwickeln und für wirksamen Klimaschutz und Lieferkettengesetze einstehen.
Fanizadeh: Lieferkettengesetze würden aber erst einmal nichts an den globalen Ungleichheiten ändern, zumindest nicht kurzfristig. Daher die Frage: Wenn wir über Lieferkettengesetze hinausdenken, was bräuchte es, um eine wirkliche Umverteilung zwischen Nord und Süd herzustellen? Wie müsste hier globale Solidarität aussehen?
Behr: Wir brauchen eine viel höhere Besteuerung von Unternehmensgewinnen, Erbschaften, Vermögen und Finanztransaktionen. Die Erlöse aus diesen Steuern sollten aber nicht nur den Gesellschaften des Globalen Nordens zugutekommen. Wichtig ist hier vor allem, die Forderung von Schuldenerlässen und Reparationszahlungen für koloniales Unrecht, aber auch für die Folgen der Klimakrise mitzudenken. Die Initiative „Debt for Climate“ setzt hier wichtige Akzente. Besonders wichtig ist, mit denjenigen solidarisch zu sein, die in ihren sozial-ökologischen Kämpfen am meisten riskieren, und das sind meist Aktivist*innen aus dem Globalen Süden.
Schuster: Zum Abschluss: Damit die sozial-ökologische Transformation gelingen kann, setzt du stark auf Aktivismus und solidarische Teilhabe. Kennst du Beispiele, die diese Transformation fördern?

Behr: Hier beziehe ich mich stark auf unsere Erfahrungen im Netzwerk Afrique Europe Interact und v.a. auf meine Zusammenarbeit mit dem kongolesischen Aktivisten und Schriftsteller Emmanuel Mbolela. Emmanuel setzte sich bereits während der Amtszeit des Langzeitdiktators Mobutu für eine umfassende Demokratisierung der Demokratischen Republik Kongo ein und setzte sein Engagement nach dem Ausbruch der Kongo-Kriege in den 1990er Jahren fort. Im Jahr 2002 musste er fliehen, kam nach Marokko und baute dort eine der ersten Organisationen subsaharischer Migrant*innen auf. Ein weiteres Beispiel für gelungenen Aktivismus innerhalb des Netzwerks Afrique Europe Interact ist die Zusammenarbeit mit der bäuerlichen Gewerkschaft COPON in Mali gegen Landgrabbing. Aus klimapolitischen Gründen ist die Verteidigung bäuerlicher Lebensgrundlagen geradezu zwingend. Denn die großflächige, industrielle Landwirtschaft verursacht Natur- und Klimazerstörung in gigantischem Ausmaß. Heute gehen 24% der weltweiten CO2-Äquivalente auf das Konto der industriellen Land- und Forstwirtschaft – mehr als auf das Konto der Industrie. Die Zerstörung kleinbäuerlicher Lebensgrundlagen und die Klimakrise stehen dabei in einem sich wechselseitig verstärkenden Verhältnis: Je mehr Kleinbäuer*innen ihre Existenzgrundlagen verlieren, desto stärker ist auch die Erderwärmung. Die Feststellung »Small farmers cool the planet« wurde deshalb zu einem wichtigen Kampfslogan. Die Transformation des dörflichen Lebens ist insbesondere Gegenstand feministischer Auseinandersetzungen: Überall auf der Welt kämpfen Feminist*innen nicht nur für den Erhalt der bäuerlichen Landwirtschaft, sondern gegen Bevormundung, Gewaltverhältnisse, starre binäre Geschlechterrollen, Immobilität und soziale Kontrolle.
Eine Bewegung, die diese Ansätze in die Praxis umsetzt, ist die Genossenschaftsbewegung Longo Maï, die ich in meinem Buch ausführlich beschreibe. Die rund 200 Kommunard*innen der Bewegung bewirtschaften seit mehr als 50 Jahren rund ein Dutzend Bauernhöfe in sechs europäischen Ländern. Dazu kommt ein Projekt in Costa Rica und eines in der Westukraine, das als Knotenpunkt für Solidaritätsarbeit in Zeiten des Krieges besonders wichtig geworden ist. Die Mitglieder von Longo Mai haben sich also keineswegs auf dem Land zur Ruhe gesetzt: Die Umsetzung konkreter Aktionen globaler Solidarität gehört seit jeher zu den Grundideen. In unserem Gemeinschaftsprojekt Mühle Nikitsch im Burgenland versuchen wir seit nunmehr zehn Jahren, ähnliche Prinzipien umzusetzen. Bei uns liegt der Fokus auf dem Empfang von sozialen Bewegungen und Gruppen der Zivilgesellschaft, die unsere Räumlichkeiten nutzen und dort neue Pläne schmieden können (27. März 2023).