Das Fluchtparadox. Über den widersprüchlichen Umgang mit Vertriebenen.

Judith Kohlenberger im Gespräch mit Michael Fanizadeh (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazine Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight September 2022 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Gesprächspartner*innen


Judith Kohlenberger ist Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin am Institut für Sozialpolitik der WU Wien, wo sie zu Fluchtmigration und Integration forscht und lehrt. Ihre Arbeit wurde in internationalen Journals veröffentlicht und mit dem Kurt-Rothschild-Preis 2019 sowie dem Förderpreis der Stadt Wien ausgezeichnet. Außerdem ist sie im Integrationsrat der Stadt Wien tätig und engagiert sich als Gründungsmitglied von Courage – Mut zur Menschlichkeit für legale Fluchtwege.

Michael Fanizadeh ist Politikwissenschaftler. Seine Arbeitsbereiche bei VIDC Global Dialogue sind Migration und Entwicklung, Menschenrechte und Antidiskriminierung mit einem regionalen Fokus auf den Nahen und Mittleren Osten. Außerdem leitet er die Arbeitsgruppe Migration & Entwicklung der Globalen Verantwortung, Arbeitsgemeinschaft für Entwicklung und Humanitäre Hilfe.

Buchcover "Das Fluchtparadox." (Kohlenberger, 2022)

Buchcover "Das Fluchtparadox." (Kohlenberger, 2022)

Die Kulturwissenschaftlerin und Migrationsforscherin Judith Kohlenberger hat ein neues Buch geschrieben. Unter dem Titel „Das Fluchtparadox“ beschreibt sie „unseren widersprüchlichen Umgang mit Vertreibung und Vertriebenen.“  Wobei sich dieses Fluchtparadox für sie entlang der tatsächlichen wie symbolischen Reise eröffnet, die ein flüchtender Mensch im derzeitigen internationalen wie nationalen Asylregime durchlaufen muss: „Vom Moment der Ausreise bzw. versuchten Einreise zwecks Asylantragsstellung im Aufnahmeland, über seine Aufnahme und Konstitution als ‚Flüchtling‘ in der Gastgesellschaft (sic!) bis hin zur teils implizit, teils vehement geforderten ‚Integration‘ (…).“

Im Gespräch mit Kohlenberger werden Aspekte herausgegriffen, die sie im Buch unter dem Begriff „Asylparadox“ diskutiert und die auf die Ursachen von Vertreibung und Maßnahmen zur externalisierten Migrationskontrolle fokussieren. Themen mit denen sich VIDC Global Dialogue seit 2010 im Rahmen des Schwerpunkts Migration & Entwicklung beschäftigt, zunächst im Rahmen eines EU-geförderten Projekts und danach im Kontext unserer Arbeit zu Subsahara-Afrika sowie dem Nahen und Mittleren Osten. Spätestens seit der großen Fluchtbewegung 2015 aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Europa hat sich dieses Interesse auch in der Öffentlichkeit dynamisiert, wodurch sich nach und nach die Fragen zu den „Fluchtursachen“ jenseits von Kriegen und Konflikten in den Vordergrund gedrängt haben.

Fanizadeh: Bei der Beschäftigung mit dem sogenannten Fluchtursachen formuliert der entwicklungspolitische Sektor, dass Entwicklungszusammenarbeit (EZA) einen Unterschied ausmachen könnte, wenn es darum geht, „erzwungene“ Migration oder Vertreibung zu bekämpfen. Sie kritisieren, dass diese „Hilfe vor Ort“ für vertriebene Menschen einerseits kaum geleistet wird und andererseits würde diese Hilfe eine paradoxe Wirkung entfalten und langfristig zu eher mehr als weniger Emigration aus den betroffenen Ländern führen. Wie ist das zu verstehen?