75 Jahre Israel – ein Jubiläum im Schatten von Krieg und Krise

Moshe Zuckermann im Gespräch mit Magda Seewald (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde in der Spotlight-Ausgabe Juni 2023 veröffentlicht. Wenn Sie den vierteljährlich erscheinenden Spotlight, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Interviewpartner*

Moshe Zuckermann ist israelisch-deutscher Soziologe und emeritierter Professor für Geschichte und Philosophie an der Universität Tel Aviv.  Er lehrte ab 1990 am Cohn Institute for the History and Philosophy of Science and Ideas (TAU). Im Zeitraum von 2000 bis 2005 war er der Direktor des Instituts für Deutsche Geschichte, danach war er einige Jahre der akademische Leiter der Sigmund-Freud-Privatstiftung in Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind u.a.: Geschichte und Philosophie der Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften; Frankfurter Schule; Ästhetische Theorie und Kunstsoziologie; der Einfluß der Shoah auf die politischen Kulturen Israels und Deutschlands.

Banner-Ausschnitt von B’Tselem - The Israeli Information Center for Human Rights in the Occupied Territories

Seewald: 2023 feiert Israel das 75. Jubiläum seiner Staatsgründung. Anlässlich der Staatgründung versprach der erste israelische Ministerpräsident Ben Gurion in seiner Rede: „…[der Staat Israel] wird sich der Entwicklung des Landes zum Wohle aller seiner Bewohner widmen. Er wird auf Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden im Sinne der Visionen der Propheten Israels gestutzt sein. Er wird all seinen Bürgern ohne Unterschied von Religion, Rasse und Geschlecht, soziale und politische Gleichberechtigung verbürgen.“ Was ist aus heutiger Sicht aus diesem Versprechen geworden?

Zuckermann: Man darf behaupten, dass von dieser aufgeklärten, sich an westlichen Idealen orientierenden Deklaration herzlich wenig eingehalten bzw. verwirklicht worden ist. Die Entwicklung des Landes erfolgte nicht zum Wohle aller seiner Bürger*innen. Die arabischen Bürger*innen des Landes leben de facto bis zum heutigen Tag als Bürger*innen zweiter Klasse, was die Ressourcenverteilung, ihren politischen Status (ihre Parteien werden als nicht koalitionswürdig erachtet), das Erziehungssystem, die munizipalen Dienstleistungen und die allgemeine Wohlfahrt anbelangt. Soziale Gerechtigkeit und Frieden existieren nicht in einem Land, das seit über 50 Jahren ein brutales Okkupationsregime aufrechterhält. Es scheint fraglich, ob die Politiker*innen Israels je einen Frieden gewollt haben. Nicht von ungefähr heißt es heute in Israels politischer Kultur, dass man den Konflikt mit den Palästinenser*innen nicht lösen kann, sondern lediglich verwalten muss. Zudem ist Rassismus auf vielen Ebenen in Israel vorzufinden.

Seewald: Aktuell sehen wir in Israel eine Protestbewegung, wie es sie in dieser Größenordnung bisher noch nie gegeben hat. Wogegen genau wird demonstriert?

Zuckermann: Demonstriert wird in erster Linie gegen das Ansinnen der jetzigen Regierungskoalition, eine „Justizreform“ durchzusetzen, die einem Staatsstreich gleichkommt, wenn sie verwirklicht werden sollte. Diese „Reform“ beabsichtigt, dass die Judikative der Exekutive, mithin der Legislative untergeordnet wird. Damit strebt Netanjahu an, dass die Exekutive ein Herrschaftsmonopol hat. Der zentrale Grund ist, dass Israels Premierminister Benjamin Netanjahu einer laufenden Verurteilung wegen Korruption, Betrug und Veruntreuung entgehen will. Gegen dieses Vorhaben hat sich schon früher eine bürgerliche Front gebildet (die Nur-nicht-Netanjahu-Opposition von 2021); durch die geplante Justizreform hat diese Opposition neuen Schwung bekommen, die aber nicht gegen die Okkupation Israels von palästinensischen Territorien demonstriert.

Seewald: Es hat auch Demonstrationen für die Justizreform gegeben. Wie groß ist dieses Lager, das sich dafür ausspricht?

Zuckermann: Ich würde da unterscheiden zwischen jenen, die die „Justizreform” tatsächlich unterstützen, und jenen, die Netanjahu in allem, was er macht, blind unterstützen. Darüber hinaus muss hervorgehoben werden, dass die orthodoxen Parteien sich nicht an den Protesten für die “Justizreform” beteiligt haben, obgleich sie ein großes Interesse an dieser „Reform” haben in Hinblick auf ihre Befreiung vom Militärdienst als auch auf die staatliche finanzielle Unterstützung für sie. Ich glaube, dass die Pro-„Reform”-Unterstützung als wütende Reaktion auf die Anti- „Reform”-Demonstrierenden zu verstehen sind. Diese Wut ist auch von einem gewissen ethnischen Ressentiment beseelt, namentlich von orientalischen gegenüber aschkenasischen Juden bzw. von der „Peripherie” gegenüber “Tel Aviv”, wie die Schlagworte lauten. Das heißt, in der Peripherie lebt ein Großteil des Klientels (Wähler*innenschaft) der rechten Parteien. Tel Aviv gilt als Bastion des israelischen (Links)liberalismus.

Seewald: Welche Rolle könnte die aktuelle Protestbewegung gegen die Regierung im Hinblick auf eine Lösung mit den Palästinenser*innen spielen?

Zuckermann: Wenn die Energie, die sich bei der gegenwärtigen Protestbewegung manifestiert hat, auf dieses Ziel kanalisiert würde, wäre das in der Tat ein Wendepunkt in der politischen Kultur Israels. Davon kann aber nicht die Rede sein. Schon zu Beginn der Demonstrationen vor etwa vier Monaten ist klargestellt worden, dass man die Themen der Okkupation, und die Lösung des Konflikts mit den Palästinenser*innen ausspart. Man wollte das Lager der Demonstrationen gegen die „Justizreform“ nicht „politisch spalten“. Denn die Gegner*innen der „Justizreform“ sind nicht automatisch Gegner*innen der Okkupation.

Seewald: Die Staatsgründung 1948 ging einher mit der Vertreibung von rund 700.000 Palästinenser*innen, der sogenannten Nakba. Der Konflikt, der schon vor der Staatsgründung begann, ist bis heute nicht beigelegt. International wird immer noch eine Zweistaatenlösung als einzige Friedensoption angestrebt. Auch Sie waren lange Zeit ein Verfechter der Zweistaatenlösung, gefolgt von einer Konföderation. Was hat Sie dazu bewogen, Ihre Meinung zu ändern?

Zuckermann: Israel hat die materielle Grundlage für eine Zweistaatenlösung systematisch unterwandert und letztlich verunmöglicht. Ich beziehe mich hierbei auf die Siedlungspraxis im Westjordanland, die unter allen israelischen Regierungen betrieben wurde. Selbst in den 1990er Jahren, wo Jitzchak Rabin (ehem. Israel. Premierminister) eine erste Initiative in Richtung einer politischen Lösung des Konflikts wagte, ist das Siedler*innenkontingent von 100.000 auf 200.000 Menschen verdoppelt worden. Eine politische Lösung des Konflikts kann nicht ohne ein Territorium für die Palästinenser gedacht werden. Und genau das ist, vor allem durch den ehem. Premierminister Ariel Sharon, verbaut worden. Wenn man heute versuchen würde, einen staatlich gefassten Beschluss der massiven Räumung von Siedlungen zu verwirklichen, käme es unweigerlich zu Kollisionen, die in einen Bürger*innenkrieg münden könnten. Aber diese Gefahr besteht gar nicht: Niemand in der etablierten Politik Israels denkt auch nur daran, den Konflikt politisch lösen zu wollen.

Seewald: Der Staatsgründung folgten kriegerische Auseinandersetzungen mit den arabischen Nachbarstaaten. Heute hat Israel mit einigen arabischen Staaten Abkommen geschlossen. Israel scheint  in der Region „angekommen“ zu sein. Wie schätzen Sie diese Entwicklungen ein?

Zuckermann: Israel ist nur deshalb in der Region angekommen, weil es eine „unbesiegbare“ Militärmacht darstellt. Ab dem Moment, wo das infolge der großen Regionalkriege klar wurde, ging man in Ägypten und Jordanien zur Realpolitik über, zumal Israel seit Jahrzehnten von den USA unterstützt wurde (und wird). D.h. als Israel in den Kriegen von 1967 und 1973 nicht besiegt werden konnte, haben Ägypten und Jordanien Frieden mit Israel geschlossen. Die Palästinenser*innenfrage bzw. die israelische Besatzung geriet zunehmend ins Abseits der Weltbühne. Die arabischen Staaten haben nicht mehr sehr viel für die palästinensische Sache getan, in dieses Vakuum trat Iran als Mentor der palästinensischen Sache ein. Die militärische Unterstützung der Hamas und der Hisbollah wird vor allem vom Iran getragen.

Seewald: Israel hat seit der Staatsgründung viel Sympathie und Unterstützung von den USA und Europa erhalten. Doch heute sehen wir vor allem auf zivilgesellschaftlicher Ebene vermehrt Kritik an Israel in Hinblick auf seine Politik gegenüber den Palästinenser*innen, wie etwa die aktuellen Berichte von Amnesty International, Human Rights Watch aber auch aus den eigenen Reihen etwa von der israelischen Menschenrechtsorganisation B‘Tselem zeigen. Wie werden solche Berichte innerhalb der israelischen Gesellschaft thematisiert und wie groß ist die Gruppe derer, die die israelische Politik gegenüber den Palästinenser*innen aus einer menschenrechtlichen Sicht  kritisch sehen?

Zuckermann: Von Sympathie sollte man in der Politik, in der Geopolitik allemal, für gewöhnlich nicht sprechen. Eher schon von Unterstützung, und die ist stets interessengeleitet. Ich nehme kritische Stimmen gegenüber Israel aus dem Westen nicht sonderlich ernst. Denn den (kritischen) Worten folgen ja keine Taten. Man hat gleichsam seine Schuldigkeit getan, indem man eine moralisierend-maßregelnde Verlautbarung von sich gegeben hat, aber an der Macht-, Gewalt- und Interessenkonstellation hat sich nichts geändert. Die USA werden Israel nie unter Druck setzen, solange es nicht in ihrem geopolitischen Interesse ist. So lange werden auch die jährlichen 3 Milliarden Dollar Militärhilfe der USA nach Israel fließen. Von Europa ist ohnehin kein ernstlicher Druck auf Israel zu erwarten, solange Deutschland das Sagen in der EU hat. Die Gründe dafür sind wohlbekannt, und es hat sich an ihnen bis dato nichts geändert. Was nun die sehr wichtige Arbeit von B'Tselem (und anderen NGOs, wie etwa Breaking the Silence) anbelangt, so kommt es nicht von ungefähr, dass sie von sehr vielen Israelis für Verräter*innen erachtet werden, die „die schmutzige Wäsche“ draußen waschen. Die allerwenigsten in Israel kümmern sich um die Menschenrechte der Palästinenser*innen, und die, die es tun, befinden sich eindeutig außerhalb des Nationalkonsenses (27. Juni 2023).