„Whatever the problem, community is the answer“ - Pioneers of Change mobilisieren für kulturellen Wandel

Interview mit Hemma Rüggen geführt von Nadja Schuster (VIDC Global Dialogue)

VIDC Online Magazin Spotlight

Dieser Artikel wurde im VIDC Online Magazin Spotlight Juli 2021 veröffentlicht. Wenn Sie das vierteljährlich erscheinende Online-Magazin, Einladungen und Dokumentationen erhalten möchten, klicken Sie bitte hier.

Weiterführende Links und Literatur


Was Pionier*innen schon bewirkt haben

Informationen zum Leadership Programm für Frauen im Wandel über den Newsletter

Pioneers of Change Online Summit 2021

Video “ Separation vs Interbeing“, Charles Eisenstein

Eisenstein, Charles (2017) Die bessere Welt, die unser Herz kennt, ist möglich.

Gilligan, Carol and Snider, Naomi (2018) Why Does Patriarchy Persist? Cambridge.

Autorin


Hemma Rüggen hat Philosophie und interpersonelle Kommunikation studiert. Sie arbeitet seit 16 Jahren als Organisationsberaterin, Trainerin und Coach. Seit 2017 ist sie Teil des Pioneers of Change Kernteams, dieses Jahr war sie die Co-Moderatorin des Online Summit. Derzeit entwickelt sie ein Leadership Programm für Frauen im Wandel.

Eden Reforestation Projects

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Vor rund zehn Jahren wurde „Pioneers of Change“ gegründet. Martin Kirchner hat damals einen einjährigen Kurs für Menschen entwickelt, die herausfinden wollen, was sie im Leben wirklich wollen und wie sie mit ihrem Tun einen Beitrag für den tiefgreifenden Wandel leisten können. Genau diesen Kurs hätte er sich für seine eigene Suche nach seinem Beitrag in der Welt am meisten gewünscht. Bis 2017 hat Pioneers of Change so mehrere hundert Menschen direkt erreicht, die gerade im Umbruch sind: junge Akademiker*innen die nach dem Studium Orientierung finden wollen, aber auch Ältere, die nach erfolgreichen Jahren im Berufsleben noch einmal mit etwas ganz Neuem durchstarten wollen.  
Mit 2017 kam ein großer Shift. Als gelernter IT-Experte war Kirchner immer schon sehr technikaffin und wurde auf einen Trend aus den USA aufmerksam, der bis dahin in Europa weitgehend unbekannt war: Online-Kongresse. Er erkannte das Potenzial, mit Online-Angeboten viel mehr Menschen zum gesellschaftlichen Wandel inspirieren und ermutigen zu können. Bereits beim ersten Online Summit nahmen 11.000 Menschen teil – ein Überraschungserfolg. Beim Summit 2021 waren es über 35.000.

Nadja Schuster sprach mit der Co-Moderatorin des Online Summit, Hemma Rüggen, über die Mobilisierungskraft von Pioneers of Change, den angestrebten Kulturwandel und warum Frauen in die Führung gehen sollten.

Was macht die starke Mobilisierungskraft von Pioneers of Change aus?

Wir haben über die Jahre mit vielen inspirierenden Pionier*innen eine tiefe Verbindung aufgebaut. Wir arbeiten zusammen, helfen einander und legen unsere Fähigkeiten zusammen. Sie stehen bei den Summits als Interviewpartner*innen zur Verfügung und laden wiederum ihre Netzwerke ein. Es ist so etwas wie eine Gemeinschaft von Gemeinschaften entstanden. Und natürlich nutzen wir auch die sozialen Medien intensiv. Darüber hinaus bekommen rund 70.000 Menschen über unseren Newsletter und unseren Blog wöchentlich Inspirationen.
Und wir haben bereits beim ersten Online-Summit festgestellt, dass die Menschen eine Sehnsucht danach haben, sich auch mit Menschen in ihrer Region zu verbinden. Das haben wir aufgegriffen und unterstützen Menschen z. B. mit Hilfe von Hosting-Trainings für den Aufbau regionaler Gruppen. Mit Corona wurden regionale Gruppentreffen schwieriger bzw. zeitweise unmöglich. Daraus ist wiederum der Wandel-Campus entstanden: eine Möglichkeit, sich auch online mit anderen Pionier*innen des Wandels zusammenzutun. Hier gibt es mittlerweile ein umfangreiches Community-Programm, z. B. können sich Teilnehmende an Erfolgsteams beteiligen oder beim Community-Café austauschen. Erst vor kurzem wurde die Kraft der Community wieder spürbar. Berührt von unserem Aufruf, Jugendlichen die Teilnahme an unserem Sommercamp zu ermöglichen, startete eine Frau unter ihren Freund*innen einen Spendenaufruf. Dank ihrer Hilfe kann jetzt eine junge Frau am Camp teilnehmen, die nicht die nötigen Mittel dafür hätte.

In der Pioneers of Change Community zeigen wir uns als „ganze“ Menschen, mit unserem Strahlen, aber auch mit unseren Unsicherheiten. Wir versuchen, eine Kultur des authentischen Miteinander aufzubauen, in denen Menschen sich willkommen fühlen. Das tut nicht nur gut, sondern ist auch die Basis dafür, dass Neues entstehen kann. Wenn wir unsicher sind, das aber nicht zeigen dürfen, verstecken wir uns oft hinter alten, gewohnten Verhaltensmustern, die uns aber oft genug daran hindern, wirklich Neues in die Welt zu bringen. Deshalb brauchen Menschen einen ausreichend sicheren „Container“, damit sie dann auch neue, verrückte, ungewohnte Dinge ausprobieren können. Und es ist auch klar, dass wir die komplexen Herausforderungen, vor denen wir stehen nicht mehr alleine lösen können. Wir brauchen dafür die Kraft und die Klugheit der Gemeinschaft. Oder wie es die bekannte Meg Wheatley, Gründerin des der Berkana Instituts, sagt: „Whatever the problem, community is the answer.”        

Sind auch Länder des Globalen Südens Teil des Netzwerks?

Die Pioneers of Change sind eine vorwiegend deutschsprachige Initiative, das heißt, die meisten Beteiligten leben in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Alle Angebote sind auf Deutsch. Die Sprache ist manchmal eine Barriere für die Beteiligung von Menschen aus dem Globalen Süden. Aber beim Online Summit laden wir auch Pionier*innen und Expert*innen aus dem Globalen Süden ein, z. B. den bengalischen Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus, die indische Globalisierungskritikerin Vandana Shiva, den syrisch-österreichischen Autor Omar Khir Alanam oder auch Sister Lucy, die Gründerin von MAHER (Indien). Wir laden Expert*innen aus dem Globalen Süden ein, weil sie unseren Blick auf die Herausforderungen in der Welt vervollständigen. Möglichst diverse Perspektiven ermöglichen uns erst Antworten auf komplexe Fragen.

Wie würden Sie den kulturellen Wandel beschreiben, den Pioneers of Change vorantreiben möchte?

Wir denken den Wandel global und gleichzeitig sehr persönlich. Denn es ist zuallererst ein Wandel in unserem Bild von der Welt und uns selbst in dieser Welt. Die patriarchale Geschichte des Ge-trennt-Seins, in der jede*r seinen eigenen Nutzen maximiert, die Natur als tote Materie sieht, die man ausbeuten kann, und die auf Kampf und Dominanz aufgebaut ist – diese Geschichte muss enden. Wir haben aber noch keine neue Geschichte miteinander geschrieben. Es wäre die Geschichte der Verbundenheit; der US-amerikanische Kulturphilosoph Charles Eisenstein nennt es „Interbeing“. In den Bantusprachen des südlichen Afrikas wird dieses Bild der Verbundenheit „Ubuntu“ genannt – „I am because you are.“
In dieser Hinsicht können, ja, müssen wir von denen lernen, die in ihrem Weltbild zumindest teilweise Verbundenheit erhalten haben, wie beispielsweise den indigenen Völkern auf verschiedenen Kontinenten, den Basisbewegungen, den Gemeinschaftsprojekten usw.

Meiner Auffassung nach sind die Wirkungen unseres Handelns nicht wirklich „linear“ messbar. Charles Eisenstein meinte bei einem Summit: „jede*r würde auf die Frage „wer ist der wichtigste Mensch in der jüngeren Geschichte Afrikas?“ sofort mit „Nelson Mandela“ antworten. Und er fährt fort: Aber vielleicht war nicht er der wichtigste Mensch, sondern seine Großmutter, die ihn vermutlich Werte wie Versöhnung, Gerechtigkeit und Mut gelehrt hat.“                                           

Haben Sie eine Vision in Bezug auf das Leadership Programm für Frauen im Wandel?

Über mehrere Jahrtausende wurden bestimmten Qualitäten dem Weiblichen und gleichzeitig „den Frauen“ zugeschrieben. Es wird Zeit, dass diese Qualitäten, die im patriarchalen System als „weib-lich = schwach“ abgewertet und in den privaten Bereich der Frauen abgeschoben wurden, in unser gemeinschaftliches, gesellschaftliches Leben und in unser Führen zu integrieren, um dadurch die verschiedenen Führungs-Kräfte auszubalancieren. Denn es sind diese Qualitäten, die uns fehlen, um die zentralen Herausforderungen der multiplen Krisen anzugehen.
Es geht dabei um Qualitäten, die das Bewusstsein der Verbundenheit alles Lebendigen stärken: z. B. die Fähigkeit, den Körper, (Mit-)Gefühl und auch subtileres Wissen jenseits vom analytischen Verstand als Ressource zu verstehen, das Leben in seiner Zyklushaftigkeit von Werden, Wachsen und Vergehen zu begreifen, für das große Ganze und die Gemeinschaft zu sorgen und die Dinge aus dem Sein heraus entstehen zu lassen, anstatt sie zu „machen“.
Frauen und Männer können diese Fähigkeiten entwickeln. Der Beitrag von Frauen ist es aus meiner Sicht, diese Qualitäten in uns allen „wiederzuerinnern“ (vgl. das englische Wort „re-member“ – sich erinnern enthält das Wort „member“ = Mitglied oder Teil sein). Während Männer im Patriarchat tendenziell gelernt haben, sich von ihren Gefühlen abzuschneiden („I don’t care“), haben viele Frauen im Patriarchat gelernt zu schweigen und sich von ihrem inneren Wissen abzuschneiden („I don’t know“). Jetzt ist es an der Zeit, unserem inneren Wissen zu vertrauen und unsere Stimme für das Lebendige zu erheben (vgl. Carol Gilligan und Naomi Snider). Dafür brauchen wir Bestärkung und Ermutigung in der Gemeinschaft. Ausgehend von dieser Philosophie entwickeln wir gerade ein Leadership Programm für Frauen im Wandel (15. Juni 2021).