(16. Juni 2025) In ihrem im Oktober 2024 erschienenen Buch unter diesem Titel unternimmt Nikita Dhawan, Philosophin* und Professorin* für politische Theorie und Ideengeschichte, den Versuch, postkoloniale, queer-feministische Theorien und Theorien der Aufklärung zusammen zu denken. Die Dekolonisierung der Aufklärung kann uns dazu anregen, „die Welt zu verändern, um sie weniger gewalttätig und ungerecht zu machen.“ Martina Neuwirth, VIDC-Expertin* für internationale Wirtschafts- und Finanzpolitik, sprach im Rahmen der VIDC Veranstaltung am 7. Mai 2025 mit Dhawan über ihr neuestes Buch.
Zu Beginn führte Lucille Dreidemy, Professorin* für Zeitgeschichte, das Publikum im gut gefüllten Festsaal der Diplomatischen Akademie in das Thema ein. Sie verwies auf Österreichs bislang wenig bekannte Kolonialgeschichte. Eine Auseinandersetzung damit sei wichtig. Denn im Zeitalter des Postkolonialismus seien weder Europa noch seine ehemaligen Kolonien sicher vor den Spätfolgen des Imperialismus. In Dhawans Worten: „Um zukunftsfähig zu sein, muss man Vergangenheitsaufarbeitung machen.“

Eine postkoloniale Auseinandersetzung mit der Aufklärung – geht das?
Postkoloniale Denker*innen kritisieren die Aufklärung und deren Erbe, weil sie eine brutale Kolonisierung, die die Unterwerfung von Mensch und Natur umfasste, rechtfertigte, hob Dhawan hervor. Doch postkoloniales kritisches Denken steht für sie weder einfach in Opposition zur Aufklärung noch ist es mit ihr unvereinbar, insbesondere wenn es um Normen der Aufklärung wie Demokratie, Gleichheit, Freiheit und (globale) Gerechtigkeit geht.
Denn die Geschichte Europas und damit der Aufklärung ende nicht an den kontinentalen Grenzen, wie Dreidemy und Dhawan feststellten. Deshalb müsse man die „koloniale Amnesie“ bekämpfen, die dies verschleiere, so Dhawan. Sie merkte an, dass die Ideen der Aufklärung aus Diskussionen in europäischen Kaffeehäusern hervorgingen, um dann zu fragen: “Woher kam der Kaffee? Woher kam der Zucker? Wer hat die Aufklärung finanziert?” Die Antwort auf diese Fragen sind natürlich die Kolonien.
Zum anderen gehören Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu den Werten der Aufklärung, die nicht nur Europa prägten. Dhawan betonte, dass diese nicht nur in der französischen Revolution ausgerufen worden waren. In der darauffolgenden haitianischen Revolution wurden sie ebenfalls im Zuge des größten Sklav*innenaufstandes der Geschichte eingefordert.
Letztlich sei der Postkolonialismus ideengeschichtlich eng mit der Aufklärung verbunden. Er ging aus einer kritischen Auseinandersetzung mit den Realitäten des Kolonialismus und den Ideen der Aufklärung hervor. Dhawan hob hervor, dass insbesondere jüdische Philosoph*innen wie Adorno, Horkheimer und Arendt in ihrer Kritik der Aufklärung prägend waren. Sie befassten sich aus der Erfahrung des Holocausts heraus mit dem europäischen Imperialismus.

Gift und Gegengift
Für die Erläuterung des Begriffs Aufklärung greift Dhawan auf das altgriechische Wort Pharmacon, das zugleich Gift und Gegengift bedeutet, zurück. Denn die Geschichte der Aufklärung sei die Geschichte der Menschenrechte und zugleich eine Geschichte der Ausgrenzung und Gewalt. Wie Neuwirth aus Dhawans Buch zitierte, ging die Aufklärung ”mit der Entrechtung von Frauen und nicht-westlichen Subjekten, sowie der Abwertung der Natur einher“. Dhawan führte weiter aus, dass der Aufklärung deshalb „genozidale Impulse“ innewohnen.
Dennoch sei sie unabdingbar für die Entstehung und Durchsetzung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie gewesen. Auch im Globalen Süden wurde Bezug auf sie genommen, um diese Rechte einzufordern. Ihre Ideale von Gleichheit aller Menschen, Toleranz und kritischer Vernunft waren revolutionär und haben nicht an Bedeutung eingebüßt. Allerdings war das Werk von wichtigen Vertretern* wie Locke und Kant auch von Rassismus und Misogynie geprägt, so Dhawan. Und genau diese Widersprüchlichkeit ziehe sich bis in die Gegenwart, führte Neuwirth fort.
Wer tritt das Erbe der Aufklärung an?
“Es ist unsere Aufgabe, bessere Kantianer zu werden, als Kant war”, verkündete Dhawan. Denn eine Abwendung ist die falsche Antwort auf die Widersprüchlichkeiten der Aufklärung. Gerade im Globalen Norden sei diese aber zu beobachten. Weder Menschenrechte noch Umwelt würden ausreichend verteidigt. Dhawan sprach etwa inkonsequente Haltungen gegenüber dem Internationalen Gerichtshof (IGH) an. Wenn westliche Staaten Urteile annähmen, wenn sie Russland beträfen, nicht aber, wenn sie Israel sanktionieren würden, entstünden nachhaltige Schäden. Diese Haltung erodiert Vertrauen und „vergiftet das Erbe der Aufklärung“. Dhawan kritisierte an dieser Stelle auch ihre eigene Wahlheimat. Deutschland bestrafe einzelne Akteur*innen für Antisemitismus, habe aber keine Skrupel, über Antisemitismus und andere Menschenrechtsverletzungen hinwegzusehen, um Erdgas aus Qatar zu importieren und diplomatische Beziehungen mit Saudi-Arabien aufrecht erhalten zu können.
Bemerkenswerterweise seien es inzwischen vermehrt Akteur*innen und Regierungen aus dem Globalen Süden, die das Erbe der Aufklärung anträten. Während sie lange die westlich geprägte Weltordnung als neokolonial kritisierten, nutzten sie heute deren Institutionen für die Einforderung ihrer Rechte. Neben den IGH-Klagen von Nicaragua und Südafrika gäbe es etwa Pride-Veranstaltungen im Amazonas, die Bezug auf die UN-Charta nähmen.

„Die leisen Stimmen des Antikolonialismus”
Auch die marginalisierten Menschen und Gemeinschaften, die Subalternen, dürfen in diesen Debatten nicht vergessen werden, so Dhawan. Diese seien oft besonders aktiv im Kampf für mehr Gerechtigkeit, erhielten allerdings kaum Gehör. Genannt wurden hier etwa die im Kastensystem sozial stigmatisierten und entrechteten Dalit-Frauen* aus Indien oder Flüchtlinge ohne staatliche Zugehörigkeit.
Dhawan erzählte, dass sie angesichts der Proteste rund um eine Gruppen-Vergewaltigung in Neu-Delhi 2017 Stolz für die indische Zivilgesellschaft empfunden hätte. Gleichzeitig war sie empört darüber, dass Vergewaltigungen von Dalit-Frauen* im selben Zeitraum stillschweigend hingenommen wurden. Dieser Zustand der doppelten Ausgrenzung und Vernachlässigung durch Staat und Zivilgesellschaft würde die Subalternität definieren. Neuwirth ergänzte, dass oft (schriftliche) Kenntnisse der Amtssprachen und staatlich abgesicherte Rechte fehlten. Auch in offizieller Geschichtsschreibung werden Subalterne oft vernachlässigt. Die Rolle von Landlosen und Kleinbäuer*innen im Widerstand gegen britischen Kolonialismus auf dem indischen Subkontinent etwa wurde erst durch die Entstehung der südasiatischen Subaltern Studies aufgedeckt. Die Frage, für wen die Rechte der Aufklärung gelten und eingefordert werden, bleibt relevant.
„Politische Arbeit ist Arbeit ohne Garantie”
Den Abend schloss Dhawan mit pragmatischem Optimismus ab. Letztendlich sei ihr Buch aus Liebe zum kritischen Denken entstanden. Politische Arbeit sei schwierig und ihre Resultate oft ungewiss. Denken sei ein langsamer Prozess. Dennoch sei es wichtig, nicht aufzugeben und sich nicht in seine eigene Blase zurückzuziehen. Man müsse sich mit verschiedenen Ideologien und Menschen auseinandersetzen und dabei neben Wut Platz für Liebe, Toleranz und Freundschaft schaffen. Diese seien notwendig, um die eigene Imagination zu trainieren. Den Mut dazu kann man auch im Kleinen üben.