Spotlight Dezember 25: Stimmen für die Verständigung

Die Diplomatie wurde dieses Jahr vielfach auf die Probe gestellt. Sie erweist sich dennoch als unausweichliches Instrument für Frieden und Sicherheit. Deshalb stehen Stimmen für die Verständigung im Fokus unserer Dezember-Ausgabe von Spotlight.

 

Der Kampf der afghanischen Diaspora um Hilfe und Wiederaufbau

Von Ali Ahmad

Autor


Ali Ahmad

Er ist Doktorand am Department für Migration und Globalisierung der Donau-Universität Krems (DUK). Er erwarb seinen Master in Friedens- und Konfliktforschung an der European Peace University (EPU). Zudem arbeitet er seit 2015 als Konsulent für das VIDC und hat Forschungsarbeiten über afghanische Flüchtlinge und Diaspora Gemeinschaften in Europa sowie zur Situation in Afghanistan verfasst.

Bearbeitung der deutschen Übersetzung


Michael Fanizadeh, VIDC Global Dialogue

Literatur


Diaspora Emergency Action & Coordination. 2025. DEMAC: The Role of the Afghan Diaspora in Emergency and Recovery Efforts

Gamlen, Alan, and Anurug Chakma. 2025. “Trusted Intermediaries? The Role of Diasporas in Humanitarian Assistance.” International Journal of Disaster Risk Reduction 117 (February).

International Organization for Migration. 2025. “IOM Warns of Mass Returns to Afghanistan, Urges Immediate Funding to Scale Up Response | International Organization for Migration.” News Global, August 7. 

Malikzai, Malikzay. 2025. “Journalist on the Humanitarian Aid Provided by the Afghan Diaspora in America to the Victims of the Earthquake in Kunar.” Posted, September 15, 2025, by Afghan Diaspora Network. YouTube.

United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs. 2025. “Afghanistan: Humanitarian Update, May 2025.” United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, August 19.
 

© AKIS

© AKIS

(17. Dezember 2025) Dieser Artikel befasst sich mit einer der aktivsten Formen der humanitären Hilfe: der Mobilisierung durch die afghanische Diaspora, deren Rolle in der Humanitären Hilfe seit der Rückkehr der Taliban an die Macht im August 2021 erheblich zugenommen hat. Anhand von zwei Erdbeben in Herat (2023) und Kunar (2025) in der jüngsten Vergangenheit wird aufgezeigt, wie die Netzwerke der afghanischen Diaspora durch die Koordinierung von Spendenaktionen, die Nutzung digitaler Plattformen und die Zusammenarbeit mit lokalen Akteuren schnell mobilisiert werden können, um Nothilfe zu leisten. 

Humanitäre Hilfe der Diaspora

Bis 2022 war fast jeder 29. Mensch – rund 30 Prozent der Weltbevölkerung – auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese alarmierende Zahl, hervorgerufen durch sich überlagernde Krisen wie Pandemien, bewaffnete Konflikte und den Klimawandel, zeichnet das Bild einer Welt, in der traditionelle humanitäre Systeme zunehmend an ihre Belastungsgrenzen stoßen. Um diesen Herausforderungen wirksam zu begegnen, bedarf es neben zusätzlichen Ressourcen auch integrativerer und anpassungsfähigerer Ansätze in der humanitären Hilfe.
Ein solcher Ansatz ist der humanitäre Einsatz der Diaspora. Überall auf der Welt haben sich Diaspora-Gemeinschaften, motiviert durch tiefe persönliche Bindungen und ein starkes Verantwortungsbewusstsein gegenüber ihren Herkunftsländern, als alternative Akteure in der Krisenhilfe engagiert. Die Bemühungen dieser Gemeinschaften zeichnen sich durch ihre Schnelligkeit, Flexibilität und kulturelle und sprachliche Vertrautheit aus. Da sie weitgehend außerhalb der formalen humanitären Strukturen agieren, sind Diaspora-Gruppen auch in der Lage, abgelegene oder risikoreiche Gebiete zu erreichen, schnell Mittel zu mobilisieren und langfristige Unterstützung zu leisten, die nicht an institutionelle Vorgaben gebunden ist.

Die sich verschärfende humanitäre Krise in Afghanistan

Das Jahr 2025 neigt sich dem Ende zu, und die humanitäre Krise in Afghanistan verschärft sich weiter. Die internationale Hilfe wurde erheblich reduziert, und wichtige Dienstleistungen brechen zusammen, sodass viele Menschen ohne Unterkunft, Schutz oder Gesundheitsversorgung sind. Die humanitäre Krise in Afghanistan hat ihre Wurzeln in jahrzehntelangen bewaffneten Konflikten, Zwangsvertreibungen und wiederkehrenden Naturkatastrophen, die durch internationale Sanktionen gegen den von den Taliban kontrollierten Staat noch verschärft werden.

Der „Humanitarian Needs and Response Plan“ (Plan für humanitäre Bedürfnisse und Maßnahmen) des Landes ist nach wie vor stark unterfinanziert. Nach Angaben des Büros der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) benötigt mehr als die Hälfte der Bevölkerung Afghanistans humanitäre Hilfe, um zu überleben. Millionen von Frauen, Kindern, vertriebenen Familien und Rückkehrer*innen haben keinen Zugang zu Nahrungsmitteln, Gesundheitsversorgung oder Schutz. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration hat die erzwungene Rückkehr von 1,5 Millionen Afghanen aus dem Iran und Pakistan im Jahr 2025 zusätzlichen Druck auf die Regierung und die sozialen Dienste ausgeübt. Unterdessen haben die Beschränkungen der Taliban für Frauen, darunter das Verbot von Bildung über die sechste Klasse hinaus, von formeller Beschäftigung und von der Teilnahme am öffentlichen Leben, die sozialen Grundlagen von Gemeinschaften, die ohnehin schon extrem gefährdet sind, weiter untergraben.

Trotz des immensen Bedarfs sind die humanitären Maßnahmen in Afghanistan stark unterfinanziert, und die Situation hat sich durch erhebliche Kürzungen der internationalen Hilfe noch verschärft. So trug die US-Agentur für internationale Entwicklung (USAID) zuvor mit etwa 35 Prozent zur gesamten öffentlichen Entwicklungshilfe für Afghanistan bei, hat diese Unterstützung jedoch deutlich zurückgefahren. Andere Organisationen mussten Kürzungen von bis zu 40 Prozent hinnehmen, was ihre Möglichkeiten, lebensrettende Hilfe zu leisten, weiter einschränkt. Als Reaktion auf diese wachsende Lücke hat sich die afghanische Diaspora als wichtiger Akteur erwiesen, indem sie Ressourcen mobilisiert, ehrenamtliche Arbeit leistet, Hilfsgüter liefert, Fähigkeiten und Materialien weitergibt und sich für Hilfe einsetzt.
Mit geschätzten 7,5 Millionen Menschen, die außerhalb ihres Herkunftslandes leben, zählt die afghanische Diaspora zu den größten weltweit. In Europa lebt ein erheblicher Teil davon in Deutschland mit rund 442.000 Afghan*innen, während Österreich im Jahr 2024 mehr als 50.000 afghanische Staatsangehörige beherbergt.

Reaktion der Diaspora auf die jüngsten Erdbeben

In den letzten Jahren ist die afghanische Diaspora zu einer wichtigen Lebensader für die Gemeinden in Afghanistan geworden, nicht nur durch Geldüberweisungen, sondern auch durch das Schließen der wachsenden Lücke, die durch den Rückgang der humanitären Hilfe entstanden ist. Da die internationalen Finanzmittel gekürzt wurden und die operativen Einschränkungen unter der Taliban-Herrschaft zugenommen haben, sind Akteure der Diaspora eingesprungen, um wichtige Formen der Unterstützung aufrechtzuerhalten.

Eine aktuelle Studie von Samuel Hall identifizierte 200 afghanische Diaspora-Organisationen – von strukturierten Vereinigungen bis hin zu informellen Freiwilligennetzwerken –, von denen viele eine aktive Rolle bei der Reaktion auf die Erdbeben von 2023 in Herat spielten. Zu ihren Bemühungen gehörten schnelle Spendenkampagnen, die direkte Mobilisierung von Ressourcen für die betroffenen Gebiete und die Nutzung digitaler Plattformen zur Koordination von Freiwilligen in Europa, Nordamerika und Australien. Prominente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, darunter Musiker*innen und Cricket-Stars, nutzten ihre Bekanntheit, um Appelle zu verstärken und Spenden zu kanalisieren.

Diese Muster veranschaulichen, wie Initiativen der Diaspora mittlerweile einen unverzichtbaren Bestandteil der Notfallhilfe in Afghanistan darstellen. Dank ihrer Flexibilität, ihrer durch die Gemeinschaft begründeten Legitimität und ihrer Fähigkeit, politische Einflussnahme zu umgehen, können sie schneller mobilisieren als viele institutionelle Akteure. Gleichzeitig verdeutlicht ihre wachsende Bedeutung einen strukturellen Wandel: Da die formellen humanitären Kanäle schrumpfen, übernehmen die Netzwerke der Diaspora zunehmend Aufgaben, die früher von Staaten und internationalen Organisationen wahrgenommen wurden.

Die von der Diaspora geleitete Notfallmobilisierung ist zu einer der zuverlässigsten und schnellsten Quellen für Krisenhilfe bei den jüngsten Katastrophen in Afghanistan geworden. Wenn die formelle humanitäre Hilfe langsam, eingeschränkt oder unterfinanziert ist, springen häufig Netzwerke der Diaspora ein, um die Lücke zu füllen. Im Oktober 2023 wurde die Provinz Herat von einer Reihe von Erdbeben der Stärke 6,3 heimgesucht, bei denen fast 1.400 Menschen ums Leben kamen, über 1.800 verletzt und mehr als 100.000 obdachlos wurden. Die afghanische Diaspora mobilisierte sich schnell und sammelte schätzungsweise 3,4 Millionen US-Dollar, um die unmittelbaren Bedürfnisse zu decken, davon 2,8 Millionen US-Dollar innerhalb der ersten Woche.

Im August 2025 erschütterte ein starkes Erdbeben die Provinzen Nangarhar und Kunar, tötete mehr als 2.000 Menschen und zerstörte Häuser und wichtige Infrastruktur. Bislang gibt es noch keine umfassende Studie, die die Reaktionen der Diaspora erfasst hat, aber laut dem Journalisten und Aktivisten Wali Malikzai sammelten afghanische Gemeinschaften in Kalifornien, bestehend aus Moscheenetzwerken und kulturellen und beruflichen Vereinigungen, fast 2 Millionen Dollar. Etwa 500.000 Dollar wurden sofort für Soforthilfe bereitgestellt, der Rest wurde für den langfristigen Wiederaufbau verwendet. Die Diaspora-Gruppen stützten sich auf vertrauenswürdige lokale Partner, um den Bedarf zu ermitteln und Transparenz zu gewährleisten. Damit zeigten sie einmal mehr, wie schnell, flexibel und vertrauenswürdig Diaspora-Netzwerke in Situationen reagieren können, in denen formelle humanitäre Kanäle langsam oder nicht vorhanden sind.

Die afghanische Diaspora in Österreich: Ein genauerer Blick

Als Reaktion auf die Erdbeben in Herat und Kunar mobilisierten Teile der afghanischen Diaspora in Österreich schnell und konzentrierten sich in erster Linie auf Geldtransfers und direkte Hilfe. Der Afghanische Kulturverein (AKIS) ist eine der aktivsten Diaspora-Organisationen Österreichs und fungiert als humanitäre Brücke zwischen Afghan*innen in Österreich und den von Krisen betroffenen Gemeinden in ihrer Heimat. AKIS nutzt persönliche Netzwerke, langjährige lokale Kontakte und die Koordination von Freiwilligen, um nach Überschwemmungen, Erdbeben und anderen Notfällen Hilfe zu leisten. In Gebieten, in denen AKIS keine offizielle Vertretung hat, wie beispielsweise in Kunar, wird Bargeld über vertrauenswürdige informelle Gelddienstleister (Hawaladars) oder von Freiwilligen der Diaspora aus Wien geliefert. Auch die Marefat Association hat sich an der Nothilfe beteiligt, indem sie nach dem Erdbeben in Herat Unterstützung leistete, Wintervorräte verteilte und Schulkindern Bildungspakete zur Verfügung stellte. Wie AKIS arbeitet auch Marefat mit Freiwilligen in Afghanistan zusammen, um sicherzustellen, dass die Hilfe die bedürftigen Haushalte erreicht. Zusätzlich zu diesen beiden Organisationen veranstaltete eine in Wien ansässige Religionsgemeinschaft eine WhatsApp-Spendenaktion, bei der fast 20.000 US-Dollar zur Unterstützung der Krisenhilfe nach dem Erdbeben in Kunar gesammelt wurden. Die Gelder wurden dann über einen zuverlässigen lokalen Partner über das informelle Geldtransfersystem (Hawala) weitergeleitet.

Über die Nothilfe hinaus unterstützt AKIS langfristige soziale Bedürfnisse, darunter die Finanzierung von Gehältern von Lehrer*innen an drei Schulen in Kabul und die Bereitstellung von Lebensmitteln und Winterkleidung für bedürftige Kinder, insbesondere für diejenigen, die auf der Straße arbeiten. Diese Beispiele spiegeln einen allgemeinen Trend wider, sich zunehmend auf die flexible, gemeinschaftsfinanzierte und vertrauensbasierte Hilfe von Diaspora-Akteuren zu stützen. Obwohl die finanziellen Beiträge häufig bescheiden sind und meist aus persönlichen Netzwerken, basisnaher Philanthropie und kleineren Spendenkampagnen stammen, entfalten sie in Gemeinschaften mit begrenztem Zugang zu institutioneller Hilfe eine erhebliche Wirkung. Beide Fälle verdeutlichen, dass Diaspora-Organisationen das bestehende humanitäre System sinnvoll ergänzen können, indem sie lokalen Zugang und eine Flexibilität bieten, die formellen Akteuren oft fehlt.

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